Ein Kreuz in einem Stein
Von Leni Takihara.
Der Zufallsfund
«LB» steht auf dem ledernen Buchdeckel des von Fridolin Marti, Präsident der Kirchgemeinde Matt-Engi per Zufall beim Abbruch eines Hauses gefundenen Buches.
Dieses enthält rund zweihundert protokollartige Aktennotizen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, festgehalten vom jeweiligen Schreiber oder Schriftführer der damaligen Kirchgemeinde.
Es sind handgeschriebene Niederschriften über Grenzbereinigungen zwischen der Kirchgemeinde, welche viele Wälder im Tal besass, und Privatgrundbesitzern. Gemeinsam mit diesen legten Amtsträger der Kirchgemeinde im umstrittenen Gebiet Grenzmarkierungen neu fest. Diese mit einem Kreuz in einem Baum oder Stein versehenen Markierungen heissen Lagen/Laagen. «LB» heisst somit «Lagenbuch».
Lach, Looge, Lage
Doch was genau sind Lagen?
Das mittelhochdeutsche Wörterbuch und das schweizerische Idiotikon helfen weiter. Eine Lach (das a wird lang gesprochen) ist ein Einschnitt, eine Kerbe. Ein Lachboum ist ein mit Zeichen versehener Grenzbaum, eine Lachung ist die Markierung einer Grenze mit in Bäumen eingehauenen Zeichen. Im Zürichdeutschen Wörterbuch findet man noch Looge = Scharte (z.B. in einem Messer).
Das Lagenbuch (Lage nun mit g geschrieben) ist eine Sammlung von Lagen-Protokollen aus dem Zeitraum von 1729 bis 1844. Die Protokolle wurden in ein anfänglich leeres Buch mit Seiten aus festem weissem Papier eingetragen. Leere Seiten hinter einem Eintrag zeigen, dass man Platz lassen wollte für einen späteren Eintrag zu einer Erneuerung dieser Lagung. Solche Erneuerungen wurden oft nach zwanzig bis dreissig Jahren vorgenommen, protokolliert und eingetragen, gut erkennbar an einer anderen Schrift und an andersfarbiger Tinte. Es gibt Jahre ohne Einträge, dann aber solche mit mehreren Einträgen pro Jahr. Die Lagkreuze, also Grenzkreuze wurden in Steine, Köpfe oder Bäume eingehauen, meistens in Rottannen oder Buchen, aber auch in Weisstannen, Ahorn, Erlen und Ulmen, oft auch in Tschupen, also in kleingewachsene Bäumchen. Markante Markierungen wurden näher benannt als Lagtanne, Lagbuche, Lagechopf oder Lagehore. Es gibt Mäderlagen und Reutlagen, die abgrenzen wo gemäht oder gerodet werden darf, und wo nicht. Der Abstand von Kreuz zu Kreuz wird manchmal mit dem Längenmass Klafter angegeben, 1 Klafter ist 6 Fuss à 30cm, also um die 180 cm. Dies entspricht etwa der Spannweite von ausgestreckten Armen.
Die in Steinen eingehauenen Kreuze kann man heute noch finden, soweit sie nicht vom Moos überwachsen sind. Viele wurden später mit roter Farbe besser sichtbar gemacht, einige dienen auch heute als Grenzmarkierung. Die in Bäume eingehauenen Kreuze sind naturgemäss verschwunden.
Gründe für Lagungen
Was waren die Beweggründe, die zu einer Lagung geführt haben?
- Am häufigsten geht es um Waldstücke, die gebannt werden sollen, um darunter liegende Güter und Wege vor Steinschlag und Lawinen zu schützen.
- Es sind die Grundeigentümer welche die Kirchgenossen, das sind alle männlichen Angehörigen der Kirchgemeinde, um ein Stück Schadenbann angehen.
- Streitigkeiten zwischen Liegenschaftsbesitzern wegen Unsicherheiten und Missverständnissen bei den Grenzen oder wegen unrechtsmässigem «Reuten und Brennen» des einen werden beigelegt.
- Eingegangenen Klagen von Anstössern, dass gefrevelt werde mit Mähen und Reuten im gebannten Wald wird nachgegangen.
- Alte, nicht mehr lesbare oder auffindbare Lagen werden auf Begehren eines Grundbesitzers erneuert.
Die Lagungen wurden im Auftrag oder mit Einverständnis der Kirchgenossen an Ort und Stelle vorgenommen, in der Regel im Sommerhalbjahr. Amtsträger der Kirchgemeinde sind hingegangen und haben, im Beisein des Antragsstellers oder Klägers, im oft steilen unwegsamen Gelände die Grenzmarkierungen angebracht.
Es fällt auf, dass den Antragstellern meistens entsprochen wird und die Angelegenheiten gütlich geregelt werden.
Die Amtsträger
Folgende Amtsträger werden im Buch erwähnt:
- Bannleiter, Bannwart: entspricht ungefähr dem heutigen Förster
- Fähnrich: Politischer Würdenträger, Mitglied der Kantonsregierung
- Kirchmeier: Kirchgemeindepräsident, -verwalter
- Obmänner, Vorgesetzte: für einen bestimmten Anlass eingesetzte Personen
- Ratsherr, Räte: Mitglied der kantonalen Regierung
- Säckelmeister: Finanzverwalter
- Sänger, Vorsänger: das Singen in der Kirche leitende Person
- Schützenmeister: Obmann der Schützengesellschaft
- Schreiber : Sekretär, Ratsschreiber
- Spännmeister, -vogt: Verwalter der kirchlichen Almosen
- Steuervogt: Steuerverwalter
- Tagwenvogt: Vorsteher des Tagwen, der Bürgergemeinde
- Verordnete: Ausschuss, Kommissionsbeauftragte
- Wachtmeister: eine Art Dorfpolizist
Transkription aus Kurrentschrift
Die handgeschriebenen Lagen-Aktennotizen sind in deutscher Kurrentschrift abgefasst. Sie sind von den Vorstandsmitgliedern des Ortsgeschichtsvereins Engi (OGV) transkribiert und in unsere Schrift übertragen worden, was nicht immer einfach war, da je nach Schreiber die Schrift oft nur mühsam zu entziffern war.
Die transkribierten Texte sind anschliessend zur besseren Verständlichkeit ins heutige Deutsch übertragen worden, wobei sich die Übersetzung nah an den Originaltext hält. So wurden die Zeilenumbrüche beibehalten, auch die unterschiedlichen Schreibweisen der Personennamen. Die Flurnamen jedoch sind gemäss der Mundart-Schreibweise wie im Flurnamenbuch von Engi notiert. Zur besseren Lesbarkeit sind viele Kommas gesetzt worden und schwer verständliche oder veraltete Begriffe werden erklärt.
Die Lagenbuchseiten sind nun also dreifach vorhanden. Die Originaltexte stehen neben den Transkriptionen und deren Übertragungen ins heutige Deutsch. Die Texte geben einen Einblick über gut hundert Jahre Lebensumstände im Raum Matt-Engi, über das Leben mit Naturgefahren, über die Nutzung der Wälder und deren Schutzfunktion.
An der Transkription und Überarbeitung der Lagenbuchseiten haben mitgearbeitet: Didi Bäbler-Marti, Sandra Fässler-Wyss, Fridolin Marti-Hefti, Karin Marti-Weissenbach, Schaag Schneider-Dällenbach, Rolf Stöckli, Leni Takihara-Aebli und Sara Zimmermann.