Il Convitto della Santa Maria Bambina a Engi
Von Richi Bertini.
Verschwundene Quellen
1971, nach über 60 Jahren des Bestehens, wurde das Mädchenheim in Engi aufgehoben. Die Textilindustrie war damals gezwungen, die Betriebe zu rationalisieren, zu modernisieren und im personellen Bereich zu redimensionieren.
Der vorliegende kleine Abriss soll einiges über das Wesen des ehemaligen Mädchenheims erzählen, ohne Anspruch auf chronologische Exaktheit. Mit der Schliessung verschwanden nämlich auch jene Akten, welche genaue Auskunft zu geben vermocht hätten.
Die verschiedenen mündlichen Überlieferungen, die diesem Bericht zugrunde liegen, zeichnen sich in Details oft durch Widersprüchlichkeiten auf, so dass man, vor allem was Daten anbelangt, nur in grosso modo berichten kann. Bezeichnenderweise wird das Mädchenheim im Buch, das zum 100-jährigen Jubiläum der Weberei Sernftal herausgekommen ist, mit keinem Wort erwähnt. Das Mädchenheim war so stark in das Unternehmen und seinen Betrieb integriert, dass man eine spezielle Erwähnung nicht für nötig fand.
Gründung 1909, oder noch früher?
Die Tatsache, dass das Mädchenheim von Nonnen geleitet wurde, ist bei der Suche nach dem Gründungsdatum eine wertvolle Hilfe, denn die dem Gottesdienst verpflichteten Ordensschwestern machten ihr Wirken vom Bestehen einer Kapelle abhängig. Die Erlaubnis, eine solche einzurichten und sie der katholischen Pfarrei Schwanden anzugliedern, erteilte der Bischof von Chur im Jahre 1909. Es darf hingegen angenommen werden, dass das Mädchenheim bereits zur Zeit der Jahrhundertwende eingerichtet wurde.
Den Hintergrund dieser Frage bildet die Tatsache, dass das Stammhaus der Schwestern des Ordens vom «Heiligen Kind Maria» zwischen Garda und Bardolino in Castelletto di Brenzone am Gardasee liegt.
Mit dieser Region stand Firmengründer und Ständerat Leonhard Blumer in besonders enger Beziehung, denn der Bruder seiner zweiten Frau, Enrico Blumer, hatte seinen Wohnsitz in Nembro bei Bergamo. Mit dessen Unterstützung war es Leonhard Blumer 1886 möglich, alleiniger Besitzer der Weberei zu werden.
Offiziell erwähnt wird das Mädchenheim meines Wissens aber erstmals mit der Einrichtung der Kapelle im Parterre des Gebäudes.
Erziehung zu christlichen Müttern
Die Bewohnerinnen des "Heims" wie es im Dorf genannt wurde, waren für die Bevölkerung die "Heimmeitli" (Heim-Mädchen). Sie kamen zu Beginn aus Oberitalien und dem Tessin nach Engi, später aus Mittel- und Unteritalien sowie zuletzt auch aus Sardinien, um sich im Allgemeinen die Aussteuer und Mitgift für die spätere Hochzeit zu verdienen. In der Weberei arbeiteten sie durchschnittlich zwei bis drei Jahre lang. Die Gesamtzahl der Bewohnerinnen dürfte nach verschiedenen Angaben etwas über 1000 Mädchen, durchschnittlich im Alter von 17 - 22 Jahren betragen haben.
Arbeit und die Erziehung zu späteren «christlichen Müttern» standen im Vordergrund ihres Aufenthaltes in Engi. Diese zweite Aufgabe ist das eigentliche Ziel des Ordens, dem die Schwestern, welche das Heim leiteten, angehörten. Aber das Leben beschränkte sich keineswegs auf die Arbeit als Weberinnen und Spulerinnen in der Weberei und auf den Gottesdienst.
Die Mädchen wurden in der Anfertigung von Handarbeiten und in anderen wesentlichen Aufgaben unterrichtet. Wenn sie Engi verliessen, trugen sie neben dem Ersparten auch einen gut gefüllten Sack erworbener Fähigkeiten und Wissens nach Hause. Im Garten und in der heimeigenen Kleintierhaltung fanden vor allem die aus ländlichen Gegenden stammenden Mädchen eine weitere sinnvolle Beschäftigung.
Die Schwestern achteten natürlich nicht nur aus religiösen sondern auch aus rein gesellschaftlichen Gründen auf eine grosse Sittsamkeit, denn im damaligen (und vielerorts auch noch im heutigen) Italien, hatte nur ein unberührtes Mädchen eine Chance, einen Ehemann zu bekommen. So herrschte denn in dieser Beziehung ganz im Sinne ihrer Eltern im Mädchenheim bis auf die letzten, liberaleren Jahre abgesehen, ein ziemlich konservatives Klima. Die Mädchen durften nur, wenn überhaupt, gemeinsam und unter Aufsicht der Nonnen, ob sie nun zur Arbeit gingen oder spazierten, im Dorfe auftreten. Wie man weiss, konnte dies aber nicht immer verhindern, dass sich zwischen Mädchen und ansässigen jungen Männern Beziehungen ergaben. Waren diese in den Augen der Schwestern von ehrlicher Absicht erfüllt, und waren die Eltern in Italien davon unterrichtet, stand, wie mehrere Beispiele zeigen, einer Heirat nichts im Wege.
Es ist klar, dass dies eher die Ausnahme als die Regel war, denn die verantwortlichen Schwestern waren sich einer grossen Verantwortung bewusst und versuchten, dieser gerecht zu werden. Die «ehemaligen» Mädchen, heute vielfach bereits Grossmütter in Italien oder hier, erinnern sich mit einigen wenigen Ausnahmen sehr gerne an ihre Zeit.
Schweizer Italiener
Interessanterweise bildete das Mädchenheim mitten in einem Glarner-Hinterländer Dorf etwas wie eine geistige italienische Enklave. Die vielen italienischen Familien, die sich hier problemlos integrieren konnten, und zum grossen Teil bald einmal echte Glarner wurden, fanden im Mädchenheim jene Insel ihrer ursprünglichen Heimat, die bei der Integration eine wesentliche Hilfe darstellte. Sie brauchten sich nicht abzukapseln, um ihre ursprünglichen Sitten und Gebräuche zu erhalten. Das Mädchenheim sorgte mit seinen Impulsen dafür, dass sie immer wieder jene «Italianità», jenes kleine Stück Heimat finden konnten, das sie wie die Auswanderer aller Völker brauchten.
Aber auch für die Katholiken schweizerischen Ursprungs war das Mädchenheim immer da. Wenn auch die Schwestern nie deutsch sprechen lernten, weil sie dazu angesichts der vielen Aufgaben einfach keine Zeit mehr fanden, wurden alle Anliegen immer verstanden und wenn möglich mit christlicher Liebe behandelt. Kein Wunder, dass die Gottesdienste sehr gut besucht waren, hatte man doch vor oder nach ihnen immer Gelegenheit, auch andere, nicht im religiösen Bereich liegende Probleme untereinander zu erörtern.
Lange Zeit bestand sogar eine Italienerschule, in welcher die Kinder italienischer Eltern neben dem Unterricht in der Primarschule auch die Unterweisung in ihrer Muttersprache geniessen durften. Die Tatsache, dass diese Einrichtung in jenen Jahren Bestand hatte, als Italien faschistisch regiert wurde, vermag den Wert der Schule nicht zu mindern. Die Bemühungen des damaligen Regimes, die Italiener im Ausland stärker an ihre ehemalige Heimat zu binden, bewirkte nämlich das Gegenteil: Man war zwar noch Italiener, aber man war nicht mehr ein italienischer Italiener. Man hatte ein Sonderstatut und befand sich, was das gesamte Leben betrifft, zwischen dem echten Italiener und dem echten Schweizer und war keines von beidem. Dieses gesunde Selbstbewusstsein war moralisch sehr vorteilhaft, und es führte dazu, dass sich viele Italiener während des Krieges eindeutiger und klarer hinter ihre neue Heimat stellten als viele der zweifelnden gebürtigen Schweizer.
Eine katholische Enklave im reformierten Sernftal
Die deutschsprachigen Katholiken des Sernftales waren lange Zeit eine kleine Minderheit. Die meisten Katholiken entstammten italienischen Zuwanderer-Familien. Dies und der Umstand, dass das Mädchenheim eine Kapelle besass, bewirkte, dass das Mädchenheim das geistige Zentrum der Sernftaler Katholiken wurde. Für die meisten von ihnen war die Kommunikation hier nämlich viel eher gegeben als mit der Mutterkirche in Schwanden.
Durch ihr ruhiges, klösterliches Verhalten und den freundlichen Umgang mit allen Leuten, genossen die Bewohner des Mädchenheims auch bei der mehrheitlich reformierten Bevölkerung immer ein hohes Ansehen, was andernorts nicht immer der Fall war. Die reformierte Einwohnerschaft hat denn auch das Mädchenheim als katholisches Zentrum des Tales nie als störend empfunden, was beiden Seiten ein gutes Zeugnis ausstellt, wenn man bedenkt, dass neben den religiösen auch mentalitätsmässige Unterschiede bestanden.
In den fünfziger und sechziger Jahren wurde das Verhältnis zwischen dem Mädchenheim und den übrigen katholischen Bewohnern spürbar lockerer. Aber die Beziehungen waren vor allem im kirchlichen Bereich weiterhin sehr eng. Die «Kirche» der Sernftaler Katholiken befand sich in Engi und nicht in Schwanden. Als Messdiener, Siegriste oder Kirchenchormitglieder übernahmen viele Aussenstehende Aufgaben im liturgischen Bereich der Kapelle.
Die Schwander Pfarrer H.H. Eigel und H.H. Walz unterstützten diese Bemühungen nach Kräften. Auch den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde Rechnung getragen. Hatte die lateinische Messe zuvor kaum sprachliche Probleme gebracht, forderten die Katholiken jetzt auch Messen in deutscher Sprache. Obwohl die Heimmädchen und ihre Schwestern kaum etwas verstanden, wurde diesem Wunsche weitgehend Rechnung getragen. Kapuziner des Marienklosters in Näfels übernahmen in ihrer gütigen Art die deutschsprachige Seelsorge. Bereits zuvor hatte es einmal pro Monat in Engi eine deutsche Predigt gegeben.
Das sehr gute Einvernehmen zwischen dem Mädchenheim und den Kirchgängern ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich nach seiner Schliessung viele Sernftaler Katholiken für eine eigene Kapelle einsetzen. Diejenige im Mädchenheim war nämlich nicht nur irgendeine Kapelle, sondern «ihre Kirche».
So denken die Katholiken heute noch gerne an die Zeit zurück, als das Mädchenheim bestand. Sie sind den Schwestern Madre Superiora, Suor Erasma und Suor Assunta, den vielen Mädchen und den Leiterinnen früherer Zeiten von Herzen dankbar. Auch die Weberei Sernftal verdient für den Unterhalt dieser einmaligen Institution ihren besten Dank. Zwar gab es viele Mädchenheime in unserem Kanton. Kein anderes aber spielte eine ähnlich wichtige Rolle.