Wissensertes zur Stromversorgung
Von August Berlinger.
Die «Biografien» der Glarner Elektrizitätsversorger könnten nicht unterschiedlicher sein und doch haben sie vieles gemeinsam. Die Unterschiede liegen in den Ansprüchen, die an sie gestellt wurden und wie sie darauf reagierten. Und leider auch darin, wie viele Akten den Wechsel von den alten zu den drei neuen Gemeinden überlebt haben. Gemeinsam sind die technischen, ökonomischen und politischen Wechsel, denen sie ausgesetzt waren.
Die meisten Gründungen lagen innerhalb rund eines Dutzends Jahren um und nach 1900 – zwei knapp zehn Jahre davor, fünf bis 40 Jahre danach. Ausser in Matt, Sool, Schwändi, Riedern und Obstalden hatten 1909 die Haushaltungen im jeweiligen Ortsbereich Zugang zu elektrischem Licht. An mehreren Orten am Anfang von einem ortsansässigen Industrieunternehmen geliefert.
Bis zum ersten Weltkrieg war die Auswahl an einschlägigen Ingenieuren, Lieferanten, Geräten und Materialien eingeschränkt. Und danach machten sich die Normierungen breit. Das schlägt sich natürlich in den Werk-Biographien nieder. Um die daraus resultierenden Wiederholungen von Begriffserklärungen, Normen und (langen) Namen möglichst zu reduzieren, wird in diesem Kapitel auf diese Gemeinsamkeiten eingegangen, die in den Werkkapiteln damit nur noch gestreift werden müssen.
Die meisten frühen Anlagen wurden für Gleichstromproduktion und -verteilung gebaut. Als die Kraftstromnachfrage stark stieg und das Löntschwerk ab 1908 Wechselstrom (auch Drehstrom genannt) abgab, kam es zu Parallelnetzen mit Gleichstrom für Licht und Wechselstrom für Gewerbe- und Industriemotoren. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die letzten Gleichstromanlagen aufgegeben! Auch bei den Stromspannungen herrschte Vielfalt. So waren Lichtanlagen – unabhängig ob Gleich- oder Wechselstrom – in einer Bandbreite von 100 bis 220 Volt gebaut worden. Die ersten regionalen Wechselstrom-Übertragungsleitungen wurden mit 4,8 bis 5,6 Kilovolt betrieben, die Spannung aber bald auf 8 kV erhöht.
Bei der Stromkennzeichnung gab es ein ziemliches Wirrwarr, obwohl meistens nur zwei Spannungen an die Haushalte abgegeben wurden. Sie waren reine Tarifbezeichnungen, benötigten aber oft einen eigenen Anschluss mit Zähler. Eine Vielzahl von Stecker- und Steckdosenformen sollten dafür sorgen, dass nicht « billiger» Strom für «teure» Zwecke bezogen werden konnten. Zum Lichtstrom als tariflich teuerste Gruppe, gehörten neben Beleuchtungskörpern auch Haushaltgerätemotoren und kleine Wärmeapparate. Zur Kraftstromgruppe mit mittelgrossen Haushalt- und Gewerbemotoren konnten vielfach auch Wärmenutzungen gehören. Der Wärmestrom konnte auch Heiz-, Koch- oder Bügeleisenstrom heissen und jeweils anders abgerechnet werden.
Die Leuchtstärkenbezeichnung war lange nicht das Watt (oder das Lumen), sondern die «Kerze». Diese war auch die Berechnungsgrösse für die Pauschalabrechnungen. Bei den anfänglich verwendeten Kohlefaden-Glühlampen brauchte es für die Leuchtkraft einer Norm-Kerze (NK) 3 bis 3,5 Watt, bei den folgenden teureren Metallfaden-Glühlampen nur noch 1,1 Watt. Daher waren für Strassenbeleuchtungen fast durchwegs Metallfadenlampen vorgeschrieben. Bei den «Glühbirnen» gab es für den Hausgebrauch die Abstufungen 8, 12, 16, 20 und 24 Kerzen, für die Strassenbeleuchtung anfänglich solche von 14 bis 32, später bis 84 Kerzen. Das war noch romantisch schummrig.
Lange wurde der Lichtstromverbrauch in definierten Verbrauchsgrössen pro Jahr pauschal abgerechnet, denn Zähler waren teuer. Dabei wurden pro «Leuchtstelle» die Kerzenzahl und der Standort der Lampe und damit die angenommene durchschnittliche Gebrauchsdauer berücksichtigt. Das ging vom nur kurzzeitig benutzten Kellerlicht über Gang, Schlafzimmer, Küche und Stube bis zur lang dauernden Beleuchtung von Arbeitsräumen. Nur bei «Grossbezügern» wie Gaststätten wurden Zähler installiert und in Kilowattstunden abgerechnet. Für Mühlehorn ging der beigezogene Ingenieur pro Tag einfach pauschal von einer Lampenbrenndauer von 2 Std.(!), Bügeleisenbenutzung von 3/4 Std., Gewerbemotorenlaufzeit von 3 Std. und einem Fabrikmotorenbetrieb von 10 Std. aus.
Die Pauschalabrechnung für Motoren erfolgte nach möglicher und nicht nach wirklich bezogener PS-Leistung, oft einfach «Pferd» genannt. «Ganztagesmotoren» wurden teurer eingestuft als «Tageslichtmotoren», die nur in Betrieb sein durften, wenn kein Strom für Raumbeleuchtung benötigt wurde. Dazu kamen noch die Minimalgarantien, also Beträge, die immer verrechnet wurden, auch wenn der effektive Bezug diese Summe nicht erreichte. Die Bezüger mieteten also einen individuell festgelegten Maximalanteil am Stromangebot und hatten darauf während des ganzen Jahres ein Anrecht. Man bezahlte also für ein Bezugsrecht und nicht für eine Bezugsmenge.
Die Elektrizität brauchte man anfänglich praktisch nur für Beleuchtungszwecke – für Strassenbeleuchtung und einige private Nutzer. Daher liefen die Turbinen z. B. in Näfels oder Elm anfangs nur nachts und das auch nur von der Abenddämmerung bis Mitternacht und von fünf Uhr bis zur Morgendämmerung resp. bis die im Werk zusätzlich installierten Akkumulatoren (Speicherbatterien) wieder «voll» waren. Die bald aufkommende und dann stetig steigende Nachfrage für Strom zu Motor- und Heizzwecken erlaubte einen Ganztagesbetrieb mit besserer Auslastung und Rentabilität. Um eine gewisse Qualitätskontrolle zu haben, mussten «Lampen» (Glühbirnen), Sicherungen und meist auch Elektroapparate beim örtlichen Stromlieferanten bezogen werden. Damit die vereinbarte Pauschale nicht überzogen werden konnte, mussten an einigen Orten Pauschalstrombezüger die «gestorbene Birne» abgegeben, um wieder eine neue kaufen zu können.
Zu den Lieferanten der frühen Jahre gehören bei den Turbinen Escher Wyss & Cie., Zürich (EWC) und Theodor Bell & Cie., Kriens (Bell), Ateliers de Constructions Mécaniques de Vevey (ACMV) sowie Maschinenfabrik Rieter AG, Winterthur (Rieter) und Bühler AG, Uzwil (Bühler). Bei den Dynamomaschinen (Generatoren) sowie den Steuerungs- Schalt- und Sicherungsanlagen waren es Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), Brown, Boveri & Cie. (BBC), SA Sécheron, Genf (Sécheron), Société d'Electricité Alioth, Bâle-Lyon (Alioth), Spälti Söhne & Co., Zürich (Spälti) und Gebrüder Gmür & Cie., Schänis (Gmür). Heute produziert keine einzige dieser Pionierfirmen mehr elektromechanische Komponenten!
Die frühen Leitungsbauten stammten vorwiegend aus der Region, vom elektrotechnischen Universalanbieter Gmür und den Installationsfirmen Heinrich Bäbler und Fridolin Freuler in Glarus sowie Dürst & Sutter, Weesen, und in den Mittellandgemeinden von der Installationsabteilung des «Motor», AG für angewandte Elektrizität in Baden, der späteren Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK). Die ersten planenden Ingenieure waren Wasserversorgungsplaner, die gleichzeitig die Kombination mit Stromproduktionsanlagen propagierten, vorallem Otto Possert in Rapperswil. Weiter Rudolf Steiger, Mels, Dürst & Sutter sowie Carl Schmid, Weesen und Kantonsingenieur Blumer, aber auch Binder & Richi, St. Gallen und Locher & Cie., Zürich.
Der erste grosse «Stromnachfrageförderer» war der Erste Weltkrieg mit seinem Kohlemangel. Die in jener Zeit und kurz danach bereitgestellten Produktionskapazitäten wollten abgesetzt werden. Dies zeigte sich während der Zwischenkriegszeit in einer massiven Propagierung von Koch und Heizapparaten im Haushalt. Und der Industrie wurden lukrative «Überschusstrom»-Angebote für Heisswasser- und Dampferzeugung in Elektrokesseln während den absatzschwachen Stunden gemacht. Mit der nach und nach eingeführten Tarifaufteilung in teuren Tagesstrom (Hochtarif; in der Regel von 7 bis 22 Uhr) und billigen Nachtstrom (Niedertarif) wurde auch den Haushalten und Gewerbebetrieben der weniger nachgefragte Energiebezug während der Nacht schmackhaft gemacht und tagsüber die Stromverwendung gedämpft.
Die beginnende Hochkonjunktur Ende der Fünfzigerjahre verlangte nach noch grösseren Energiemengen. Um die Übertragungsnetze nicht forciert verstärken und ausbauen zu müssen, drängten die Stromproduzenten auf den Spannungswechsel von meist 8 auf 16 kV. Parallel dazu sollte auch die Spannung auf den Ortsverteilnetzen von meist 250/145 auf 380/220 V erhöht werden. Während die Umstellung auf der Primärseite (Energiebezug) – wenn auch in Etappen – dank der Unterstützung durch die Stromkonzerne und der Lieferbereitschaft der Komponentenhersteller relativ schnell vollzogen wurde, harzte es auf der Sekundärseite (Energiefeinverteilung) oft gewaltig. Wegen der anfallenden Kosten für die Stromversorger und der Überforderung der Installationsfirmen wegen Personalmangel dauerte dieser Prozess Jahre bis Jahrzehnte!
Dank Subventionen (bis 60%) von Bund und Kanton für Investitionen im Berggebiet ab den Fünfzigerjahren wurde es für die Stromversorger erst möglich, die Elektrifikation von Berg-Liegenschaften zu planen und auszuführen. Diese erforderten lange Zuleitungen bei geringem Energiebezug und waren daher unrentabel und eine Belastung der Betriebsrechnung. Ebenfalls in diese Zeit fällt die Einführung der Rundsteuerungen (Netzkommando). Diese sollten die ebenfalls kostenintensiven Stromspitzen brechen helfen. Dies konnte z.B. durch das zentral gesteuerte Ausschalten von «Stromfressern» wie Direktheizungen oder Waschmaschinen während der Kochzeiten erreicht werden.
In einigen grösseren Gemeinden wurden bereits ab den Vierzigerjahren im Kernbereich die bestehenden Freileitungen sowie neue Netzstrecken verkabelt. Zum Standard wurde dies ab den Sechziger-, vorallem aber in den Siebzigerjahren, die dann meistens auch mit Leiterquerschnittvergrösserungen für erweiterte Stromtransportvolumen verbunden waren. Die laufend kräftig steigende Nachfrage brachte die Netze ständig an deren Grenze. Darauf zurückzuführende Vorfälle gab es wenige, aber einer war gravierend und von schweizweitem Interesse. In Glarus geriet ein Kondensator in Brand und das allgemein verwendete Kühlöl setzte giftiges PCB (Polychlorierte Biphenyle) frei. Die Sanierung war langwierig und kostenintensiv. Der Vorfall leitete überall eine forcierte Ersetzung dieser Öle ein.
Um die vielen Tarife und damit auch die Stecker- und Steckdosenformen sowie die Stromzähler zu reduzieren, wurden verschiedene Tarifsysteme ausprobiert. Ab etwa 1960 wurde an einigen Orten der Blocktarif angewendet. Dabei wird im Prinzip bis zu einer festgelegten Bezugsmenge (Block) ein teurerer Tarif verrechnet, der auch die jährlichen Netzaufwendungen und Verwaltungskosten abdeckt. Nach dieser Limite werden nur noch die Energiekosten verrechnet. Ab ungefähr 1970 führten einige Stromversorger den Einheitstarif ein. Dabei werden die Kosten für Netz und Verwaltung durch eine Grundgebühr abgedeckt und die Energiekosten nach Verbrauchsaufwand verrechnet. Beide Systeme waren in der Regel mit tieferem Sommer- und höherem Wintertarif gekoppelt. Die heutige Stromverrechnung, aufgeteilt in Erzeugungs-, Netznutzungsund Abgabenkosten gilt schweizweit seit 2008.
Ab den Achzigerjahren stellte ein neues Umweltbewusstsein und die damit verbundene eidgenössische Politik die Stromwirtschaft vor ganz neue Herausforderungen. Die erstarkende Skepsis in der Bevölkerung gegenüber der nuklearen Energieerzeugung und die « Moratoriumsinitiative» von 1990 liessen werbetechnisch aus Atomkraftwerken Kernkraftwerke werden – das Wort «Atom» wurde in der Branche tabu. Die «Rettet unsere Gewässer»-Initiative mit der Forderung nach genügendem Restwasser jagte 1992 den Stromproduzenten einen gehörigen Schreck ein und liess sie einen Produktionsverlust bis zu einem Viertel an die Wand malen. Wirklich echte Probleme brachten den Stromversorgern um die Jahrtausendwende die Beschlüsse und Gesetze über die Rücknahme der Stromproduktion aus Kleinkraftwerken zu festgelegten Preisen. Einige wurden gar in ihrer Existenz gefährdet.
Die Energienutzungsverordnung von 1992 sah daher vor, dass kleine kommunale und regionale Unternehmen der öffentlichen Energieversorgung (z.B. EW Linthal) unverhältnismässige Abnahmemengen an das übergeordnete Versorgungsunternehmen (z.B. NOK) weiterleiten konnten. Die Abnahmemenge war unverhältnismässig, wenn sie fünf Prozent der jährlichen Energieabgabe an die Konsumenten überstieg. Doch mit dem Energiegesetz, das 1999 den Energienutzungsbeschluss ablöste verschwand diese Fünf-Prozent-Klausel. Das traf einige Gemeindewerke empfindlich, denn es war nun dem Goodwill ihres Lieferanten überlassen, die alte Regelung freiwillig weiterzuführen. Danach erhoffte man sich eine Lösung vom Elektrizitätsmarktgesetz, das jedoch 2002 beim Referendum durchfiel und daher nicht in Kraft trat. Schliesslich nahm eine Änderung der Energieverordnung im Jahr 2005 den Stromversorgern die Last solcher Rücklieferungen definitiv ab.
Die sogenannte «Strommarktliberalisierung», resp. deren schleppende und unklare politische Umsetzung, brachte für die Strombranche anhaltend grosse Unsicherheiten. Sie ist noch heute (2020) ein Zankapfel zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen und Rücksichten. Im Jahresbericht eines Betriebsleiters kann man lesen: «Ab 1. Januar 2009 gelten als Vorstufe zur freien Marktwirtschaft neue Richtlinien, die für den Bezüger eine grössere Transparenz bringen sollen. Die Stromwirtschaft hat mit der Aufteilung in Energie, Netzentschädigung und allgemeine Zuschläge die behördliche Verordnung umgesetzt und damit die Verwirrung vollendet. An Stelle der erwarteten Verbilligung bewirkten die neuen Abgaben für erneuerbare Energien und allgemeine Dienstleistungen eine Verteuerung. Eine Tatsache, welche auch bei der geplanten vollständigen Marktöffnung Bestand haben wird.»
Neben diesem Ärger verblassen leider die alltäglichen, aber überaus wichtigen Betriebs- und Unterhaltanstrengungen der Stromversorger. Mindestens ein gutes Ergebnis hat die «Liberalisierung» dennoch gebracht. Das Übertragungsnetz, welches in der Regel auf der Spannungsebene 220/380 kV betrieben wird, ist nun in einer eigenen Gesellschaft, der «Nationalen Netzgesellschaft» (Swissgrid) zusammengefasst. Das Übertragungsnetz sowie die übrigen, nachgeordneten Netze sind grundsätzlich allen Produzenten zugänglich. Auch den privaten, einheimischen Photovoltaikanlagenbesitzern, die dank der KEV (Kostendeckende Einspeise-Vergütung) nun nicht mehr auf die Hilfestellungen der Glarner Solarstrombörse angewiesen sind.
Weiter: Elektrizitätsversorgung EngiDieser Text ist ein Auszug aus «Strom fürs Glarnerland» von August Berlinger, erschienen 2022 und erhältlich im Buchhandel (ISBN 978-3-033-09268-6).
Beiträge in dieser Serie
- Strom fürs Chliital
- Wissensertes zur Stromversorgung
- Elektrizitätsversorgung der Gemeinde Engi
- Elektrizitätsversorgung der Gemeinde Matt
- Elektrizitätswerk der Gemeinde Elm
- Quellen: Strom fürs Chliital